SHINO
Zwei Tage also
noch. Und dann? Geht Saphir wieder zurück zu ihrem Stamm und tut so
als wäre nichts gewesen? Das zweifel ich irgendwie stark an und
dennoch wäre es möglich. Wird sie so tun als würde sie mich nicht
kennen oder bleiben wir Freunde? Naja, wenn wir überhaupt welche
sind.. Auf dem Weg zurück zum
Dorf überlegte ich wie es wohl sein würde, wenn sie zurück gehen
wird. Ich werde sie aus dem Dschungel begleiten und sie ab
da alleine gehen lassen. Saphir würde zu hause ankommen, Lian zur
Rede stellen und sich mit ihm vertragen. Ihre Eltern würden ihr
helfen ihre Beziehung zu ihm richtig aufzubauen. Sie würde Lian
heiraten und glücklich werden. Mich würde sie nach nur wenigen
Tagen vergessen. Und ich? Ich werde dann wohl mit Lura leben müssen,
wenn sie mir jemals verzeihen wird.. Dann nimmt alles wieder seine
Normalität an. Das was doch alle erreichen wollen: Das Schicksal
unter Kontrolle zu halten.
„Shino!
Da bist du ja. Wo warst du?“, fragte meine Mutter und kam besorgt
auf mich zu. „Bin ein wenig rumgelaufen“, brummte ich genervt von
ihrer Neugier und Sorge. Aber Chayenne ignorierte meine schlechte
Laune einfach und erzählte weiter: „Saphir ist anscheinend wieder
aufgetaucht. Nico weiß wo sie ist, zumindest indirekt.“ „Schön“,
meinte ich nur und legte mich hin. „Hey, was ist den los mit dir?
Wieso bist du denn so schlecht drauf?“, wollte Chayenne wissen und
legte sich zu mir. „Nichts. Lasst mich einfach alle in Ruhe,
okay?“, wies ich sie ab und drehte mich von ihr weg. Langsam konnte
ich spüren wie Wut in ihr aufstieg. „Was ist eigentlich dein
Problem? Ich versuche mich dir zu nähern und du stößt mich weg.
Das ist verletzend, weißt du das? Und du bist der einzige der nicht
geholfen hat Saphir zu suchen. Du benimmst dich so als wäre es dir
egal!“, schnauzte sie mich an und ich konnte einen enttäuschten
Unterton in ihrer Stimme heraushören. Ohne über meine eigenen Worte
nachzudenken, fing ich einfach an los zu reden: „Es geht mir nunmal
nicht so gut. Ihr lebt euer Leben, ihr habt euren Spaß und haltet
uns in diesem Drecksdschungel gefangen! Vielleicht will Saphir nicht
zurück. Vielleicht fühlt sie sich ja auch wie eine Gefangene und
von ihren Freunden hintergangen? Gut, ihr macht euch Sorgen um sie,
aber es ist ihr vielleicht egal. Sie möchte auch tun was sie möchte,
ihr eigenes Leben leben und alles, nur nicht zurück! Am liebsten
würde ich es ihr gleichtun und ebenfalls einfach abhauen!“ Stille.
Nur unser Atem drang durch die Lautlosigkeit und ich hörte, wie das
Herz von ihr aus dem Takt schlug. Chayenne war so geschockt, dass sie
nicht wusste, was sie noch sagen sollte. „Ich.. Aber warum sagt ihr
denn nichts? Ich meine.. Es ist doch alles nur zu eurem Besten! Du
weißt einfach nur nicht was es für Probleme als Erwachsener zu
bewältigen gibt. Wie wollen euch davor nur schützen“, stotterte
sie. „Und wie sollen wir dann Erwachsen werden? Das Leben ist dafür
da um Probleme zu lösen, nicht um ihnen zu entgehen!“ Erneut umgab
uns Schweigen. „Du warst die ganze Zeit über bei ihr“, versuchte
sie zu begreifen und schüttelte bei ihrer Feststellung den Kopf.
„Shino, es tut mir wirklich Leid. Möglichwerweise werde ich es
niemals nachvollziehen können, aber du bist vielleicht der einzige
der Saphir versteht. Trotzdem hättest du uns sagen sollen, dass du
sie versteckst.. Sie bedeutet dir viel, oder?“, fragte sie
nachdenklich. Allerdings wartete sie meine Antwort nicht ab, sondern
stand auf und ging. Na toll, Mutter. Lass mich mit dieser
Frage alleine hier sitzen. Danke.
Meine Mutter hatte mir vorgeschlagen ein wenig Zeit mit Nico zu
verbringen. Er und Silas arbeiteten an einer Werkstatt. Es war die
von Lucien. Nico kam bereits am frühen morgen zu mir und holte mich
ab. Zusammen schlenderten wir zur Werkstatt, wo ein Mann über den
Hof hastete. „Wer ist das?“, fragte ich verwirrt und Nico fing an
zu lachen. „Das ist Silas, erkennst du ihn nicht wieder?“, sagte
er und verwandelte sich ebenfalls. „Na komm, du musst mit anpacken.
Mit deinen Pfoten geht das schlecht“, bemerkte er amüsant und ging
vor. Auch ich änderte meine Gestalt und lief auf zwei Beinen weiter.
Als ich das Lager betrat, stand Nico bereits da und sortierte sie
Einzelteile. Da ich eh nichts besseres zu tun hatte, half ich ihm.
Vor mir befand sich ein riesiges Sortiment von Autoteilen, von der
kleinsten Schraube bis hin zu Türen und riesigen Reifen. Erneut
hastete Silas an uns vorbei, er sah ziemlich gestresst aus. Auf
einmal blieb er stehen und schaute zurück. „Da bist du ja Nico.
Eben haben zwei Leute angerufen, mitten im Nichts liegen geblieben.
Komm, sie warten!“, forderte er ihn auf und Nico nickte. „Dann
übernimmst du kurz die Aufsicht hier. Wenn ein Anruf kommt, nach
Details fragen und sagen er solle sich gedulden. Wir sind sofort
wieder da“, sagte er und gab mir sein Handy. Zudem drückte er mir
noch eine Liste in die Hand. „Was soll ich damit?“, rief ich ihm
noch hinterher, aber er war bereits weg. Ein Motor sprang an und die
beiden fuhren davon. Das Handy legte ich neben mich auf den Boden und
musterte den Block. Einige Dinge waren hier durchgestrichen und bei
einigen standen dahinter „zu besorgen!“. Bei der Liste handelte
es sich um die Autoteile. Sorgfältig checkte ich die ganze Liste
durch und versuchte sie fortzuführen. Es fehlten nur ein paar Kabel,
Ventile und ein wenig Werkzeug. Grade war ich dabei alles ordentlich
zurückzustellen, als mich eine Schockwelle durchfuhr. Schritte
hallten durch das Lager und ich hörte eine Frauenstimme lachen. Aus
einem unerklärlichem Grund konnte ich mich nicht mehr bewegen, als
hätte ich die Kontrolle über meinen Körper gefunden. Ein Stechen
durchdrang meinen Rücken und ich zuckte zusammen. „Ich hab doch
gesagt wir werden uns bald wieder sehen, Nico“, trällerte eine
Stimme und die Schritte wurden immer lauter. Der Schmerz war so
unerträglich, dass ich mittlerweile auf meine Knie gefallen bin und
angefangen habe zu schreien. Plötzlich packte mich eine schmale Hand
an meiner Schulter und zog mich zurück. „Du bist gar nicht Nico“,
stellte sie verwirrt fest und ließ mich los. Kurzerhand hörte der
Schmerz auf und ich richtete mich auf. Vor mir stand eine verwirrte
Frau die mich hasserfüllt musterte. „Wer bist du?“, fragte sie
mich. Immernoch war ich von eben total geschockt. Was zur Hölle
war das? Diese Frau vor mir starrte mich gradewegs an. Auch wenn
ich Angst hatte wollte ich sie kontrollieren. Ich versuchte bis zu
ihr vorzudringen, sie unter meinen Bann zu bekommen. Noch bevor ich
es schaffte auch nur durch die Oberfläche ihrer Augen lesen zu
können, kniff sie diese zusammen und erneut sackte ich zusammen.
„Versuch es gar nicht erst, Tiger. Dein Name“, forderte sie mich
auf und wurde immer ungeduldiger. Wie macht sie das? Wie ist das
möglich? Ein weiterer Stich folgte und ich stöhnte laut auf.
„Shino. Shino ist mein Name!“, rief ich und der Schmerz brach in
sekundenschnelle ab. Trotzdem blieb ich auf dem Boden liegen. „Shino
also. Aus welchem Stamm bist du?“ „Neros“, antwortete ich
prompt, aus angst sie würde mir wieder Schmerzen zufügen. Sie
lächelte und kniete sich zu mir. „Hab keine Angst, ich tue dir
nichts, Shino. Ich bin eine alte Freundin von Mila, kennst du sie
vielleicht?“, erkundigte sie sich mit einer lieblichen Stimme.
Außer einem kleinen Nicken gab ich nichts von mir. Nichtmal richtig
Atmen traute ich mich in ihrer Gegenwart. „Was weißt du alles über
Mila?“, fragte sie nett und ich versuchte meine Sprache wieder zu
finden. „Sie ist.. Mila ist bei Lucien. Und.. Und Mila ist
verheiratet..“, stotterte ich und ihr Gesicht verzog sich. „Und
weißt du auch etwas über ihre Vergangenheit?“ „Nein. Was soll
schon sein?“ „Ihr Vater vermisst Mila schrecklich“, sagte sie
etwas bedrückt. „Aber.. sie ist doch bei Lucien?“, sagte ich
verwirrt und verstand nicht was sie meinte. Mila ist Luciens
Tochter. Sie ist bei ihm, also warum sollte er sie auch vermissen?
„Lucien ist nicht ihr Vater. Ihr Vater ist Maison.“ Mason?
Wer ist das? Warum sagten alle Lucien sei ihr Vater? Wusste sie es
selbst überhaupt? Aber vorallem wieso erzählt sie mir das alles?
„Hör zu Shino, wir möchten Mila wirklich gerne wieder bei uns
haben. Du verstehst das doch bestimmt, oder? Immerhin sind wir ihre
Familie. Ohne Mila fehlt da einfach etwas bei uns. Aber Lucien lässt
uns nicht mit Mila sprechen, könntest du das für uns tun? Damit
würdest du uns einen großen Gefallen tun“, bat sie mich und
lächelte. „Ich versuche es“, sagte ich und beruhigte mich
langsam. Sie lächelte zufrieden und stand auf. „Aber sage
niemandem, dass ich hier war. Sonst werden sie auch dich nicht in
ihre Nähe lassen“, warnte sie mich und hüpfte davon.
Nach einer Stunde kamen Silas und Nico wieder und hatten einen Wagen
dabei, der nicht mehr ansprang. Den ganzen Tag arbeiteten sie daran
und ich hatte auch ein wenig mitgeholfen. Als sie fertig waren zogen
sie sich um und setzten sich zu mir auf die Bank. Der Rauch ihrer
Zigaretten formte sich in der Luft, bis er vom Wind verweht wurde. Silas verabschiedete sich und ging. „Saphir möchte morgen wieder
nach hause kommen“, flüsterte ich und starrte auf den Boden. Er
nickte. „Danke Shino, für alles. Aber wieso tust du das? Ich
dachte du würdest dich nicht gut mit ihr verstehen?“, fragte er
mich ohne mich anszuschauen. „Anfangs war das auch so. Doch dann
fand ich sie Draußen. Sie hatte geweint. Ich wusste auch nicht dass
sie das ist.. Für mich war sie ein einfaches Mädchen, ein Mensch
wie ich noch nie gesehen hatte. Saphir saß auf dem Boden und hatte
die Haare vor ihrem Gesicht. Ich dachte sie wäre wirklich ein Mensch
und bin selbst in meiner menschlichen Gestalt vor sie getreten, damit
ich sie nicht verschrecke. Funktioniert hat das aber nicht wirklich,
sie wollte sich mir einfach nicht öffnen. Alleine sitzen lassen
wollte ich sie aber auch nicht, weil ich Angst um sie hatte. Also
hypnotisierte ich sie und brachte sie in die Höhle, wo sie immernoch
ist. In diesen paar Tagen haben wir uns angefreundet. Sie vertraut
mir. Ich erinnere mich immer wieder an den Tag wo ich sie so hilflos
und alleine gefunden hatte.. Es war wirklich kein schönes Gefühl
sie so zu sehen“, erzählte ich ihm. Nun wagte ich ihn anzuschauen,
doch auch sein Blick war starr auf den Boden gerichtet. Nico sah
nachdenklich aus. Hatte ich was falsches gesagt? „Jetzt sehe
ich dich aus einem ganz anderem Winkel, Shino. Ich möchte dir auch
etwas erzählen. Früher hatten meine Eltern mich Mila versprochen.
Wir sollten heiraten, aber ich liebte sie nicht. Ich habe uns beide
aber nicht aufgegeben. Ich dachte die Liebe wächst mit der Zeit.
Aber dann traf ich auf Scarlett. Sie war ein einfacher Mensch,
angereist um hier ein Praktikum beim Tierschutzverein. Ihr Exfreund
Leon ist ihr bis hierher gefolgt und ich habe versucht sie vor ihm zu
beschützen. Anfangs war ich nur der Typ, der ihr Auto reparierte.
Auf den ersten Blick hatte ich etwas besonderes in ihr gesehen. Mir
war klar, wenn ich ihr Auto jetzt reparieren würde, würde ich sie
nie wieder sehen. Also dachte ich mir eine kleine Lüge aus, um sie
wieder zu sehen. Nach und nach haben wir uns immer mehr getroffen und
ich habe mich mit jedem mal mehr in sie verliebt. Ich wusste Scarlett
war die einzige für mich, also teilte ich das meinem Stamm mit,
welcher mich aber verbannte. Das war mir trotzdem egal. Alles was ich
wollte war bei Scarlett sein. Das hatte ich auch geschafft. Dann traf
es mich wie ein Schlag: Sie war verschwunden. Lange hatte ich sie
gesucht und fand sie halbtot in einer abgelegenen Hütte. Das war ihr
Exfreund gewesen. Erst brachte ich Scarlett in einen abgelegenen Teil
erstmals in unseren Dschungel. Als sie bereit war, wagte ich es
wieder in mein Dorf zurück und dort lernte sie erstmals alle kennen.
Von diesem Moment haben wir Zwei miteinander gelebt. Wie sie zum
Tiger wurde ist eine andere Sache, was wirklich zählt ist, dass sie
nun hier ist, bei mir. Und dass wir glücklich sind. Sehr sogar. Wenn
ich mir vorstelle, dass ich sie niemals kennen gelernt hätte, wenn
ich nicht so ignorant gewesen wäre, wird mir beinahe schlecht. Wir
haben unser Schicksal selbst in die Hand genommen, was ein wirklich
großer Schritt war. Eigentlich dachten wir, wir würden bei Saphir
alles besser machen, sie ihr Leben lassen, doch als Eltern ist das
gar nicht mal so einfach, weißt du? Wir haben Angst um unsere
Kinder. Shino, beantworte mir bitte eine Frage: Liebst du Lura
wirklich?“ Seine Erzählung hatte ich aufmerksam mitverfolgt. Nico
war wirklich zu bewundern. Er hatte sich gegen das Gesetz gestellt,
und so mit seiner Existenz gespielt und dennoch hat er das erreicht
was er wollte. Aus dieser Begebenheit kann ich einiges lernen. Ich
will nicht nach dem Gesetz leben; Eingeschränkt und Gefangen. Meinen
Willen möchte ich mir auch nicht nehmen lassen. Es dauerte nicht
lange bis ich ihm antwortete: „Nein. Das tue ich nicht. Ich glaube
ich habe mich in Saphir verliebt..“ Nico konnte sich ein lächeln
nicht verkneifen und nickte. „Worauf wartest du dann noch? Wieso
sitzt du hier tatenlos rum?“, sagte er und verkniff sich nur mit
viel Mühe ein Lachen. Zögerlich stand ich auf. „Shino, du musst
das nicht machen. Egal was du jetzt tust, es wird schon das Richtige
sein“, sprach er zuversichtlich und es stand fest: Ich werde
Saphir sagen, dass ich mich in sie verliebt habe. Jetzt.